10/04/2006

IG Metall will mit Tarifvertrag gegensteuern

Über 26.000 Arbeitsplätze gehen jedes Jahr in der Metall- und Elektroindustrie in Nordrhein-Westfalen verloren, weil Betriebe nicht hinreichend in die Qualifizierung ihrer Beschäftigten investieren, neue Produkte und Prozesse nicht rechtzeitig auf den Weg bringen.

Zu diesem Ergebnis kommt die IG Metall-Bezirksleitung in Nordrhein-Westfalen in ihrer Zusammenfassung von Fehlentwicklungen in Betrieben der Branche.

Detlef Wetzel, IG Metall-Bezirksleiter in NRW: „Betriebe, die heute nicht in Qualifizierung und Innovation investieren, gefährden die Arbeitsplätze von morgen.“
Damit diese Fehlentwicklungen auf Kosten der Beschäftigten nicht mehr ungebremst weiter gehen, strebt die IG Metall in dieser Tarifrunde den Abschluss eines Tarifvertrags für Qualifizierung und Innovation an.
Detlef Wetzel: „Investitionen in die Köpfe - das ist das Beste, was Unternehmen leisten können, damit auch morgen die Arbeitsplätze sicher sind, damit Einkommen wie Gewinne stimmen. In zu vielen Betrieben in NRW gibt es gravierende Innovations- und Qualifizierungslücken. Das ist keine Sache, die alleine die Geschäftsleitungen etwas angeht. Wer sich sperrt, mit uns einen Tarifvertrag zu Qualifizierung und Innovation abzuschließen, verharrt in überkommenem „Herr-im-Hause-Denken“. So ist die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen in den Industriebetrieben in Nordrhein-Westfalen nicht zu erreichen.“
In der vierten Runde der derzeitigen Tarifverhandlungen für die 700.000 Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie in NRW am vergangen Donnerstag erklärten auch Vertreter der Arbeitgeberseite, dass es die Vorteile aus Qualifizierung und Innovationen sind, die Betriebe erfolgreich machen. Wer das nicht leiste, scheitere eben, selber schuld. Unbeeinflusst davon verweigern die Arbeitgeber weiterhin ernsthafte Verhandlungen zur Forderung der IG Metall nach einem Qualifizierungs- und Innovationstarifvertrag.

Nun legt die IG Metall in NRW erstmals Zahlen zu den Beschäftigungsverlusten in den Branchen der Metall- und Elektroindustrie des Bundeslandes vor, die mangelnden Qualifizierungs- und Innovationsleistungen der Betriebe zuzurechnen sind. Die Ergebnisse basieren auf eigenen Recherchen, öffentlichen Daten und daraus abgeleiteten, fundierten Schätzungen.
Detlef Wetzel: „Es gibt leider die Unternehmen, die sich selbst ins Abseits stellen. Wir müssen aus unserer Praxis in den Betrieben feststellen: Fast immer wenn ein Arbeitsplatz verloren geht, war der vorangehende Mangel an betrieblicher Qualifizierung und Innovation die Ursache.“

Die Fakten sind ernüchternd. Allein von 2000 bis 2005 sind in der hiesigen M+E-Wirtschaft im Saldo über 98.000 Arbeitsplätze verloren gegangen.
Detlef Wetzel: „Wir wissen, dass es für die Betriebe in NRW schwierige Ausgangssituationen gibt. Die Frage ist aber doch: Ist man Spielmacher auf diesem Feld oder lässt man sich treiben und gibt sich verloren? Besondere Situationen verlangen besondere Anstrengungen - und sie müssen umso größer sein, je schwieriger die Lage ist! Es hilft nicht, immer nur auf alte Rezepte zu setzen - wir brauchen frischen Wind in den Betrieben, wenn es nicht anders geht, dann auch mit einem innovativen Tarifvertrag.“
Auf der Grundlage statistischer Erhebungen, einer Befragung zum Thema Qualifizierung im IG Metall-Bezirk NRW (Beteiligung bisher: 106.500 Mitglieder in 986 Betrieben), einer Auswertung der Hintergründe von 410 Fällen drohender Arbeitplatzverlagerungen, betrieblicher Insolvenzen und abweichender Tarifvereinbarungen sowie unter Nutzung vorhandener wissenschaftlicher Untersuchungen kommt die IG Metall NRW zur niedrig angesetzten Schätzung, dass insgesamt mindestens 26.000 Arbeitsplätze pro Jahr noch existieren könnten, wäre genug für die Qualifizierung und Innovation in den Betrieben geleistet worden.
Detlef Wetzel: „Liefen diese Dinge in den Betrieben durchgängig anders, könnten wir für das Jahr 2006 wahrscheinlich im Saldo einen Beschäftigungsaufbau in unseren Branchen bilanzieren, statt stetig weiterer Verluste.“

Im einzelnen sind Fehlentwicklungen mit Arbeitsplatzverlusten durch Qualifizie-rungs- und Innovationslücken folgenden Bereichen zuzuordnen:

1. Betriebliche Insolvenzen:
Mindestens 9.000 Arbeitsplätzen pro Jahr gehen verloren, weil fehlende Qualifizierungs- und Innovationsanstrengungen mit der Insolvenz von Betrieben enden. Abgeleitet ist diese Zahl aus aktuellen Insolvenzstatistiken (Credit-Reform) und verschiedenen Untersuchungen zur Erfassung von Insolvenzursachen. Am Anfang jeder Insolvenz steht der Verlust strategischer Kompetenz in der Unternehmensführung sowie der Verlust besonderer Kompetenzen im Betrieb gegenüber den Wettbewerbern im Markt.

2. Beschäftigungsverluste in krisenhaften Unternehmensentwicklungen:
Für weitere mindestens 6.000 Beschäftigte pro Jahr bedeuten krisenhafte Einwicklungen in ihrem Metall- oder Elektrobetrieb in NRW den Verlust des Arbeitsplatzes. Auch dieser Teil verlorener Arbeitsplätze wäre mit verstärkten Innovations- und Qualifizierungsanstrengungen der Betriebe zu erhalten. Das ergibt die Auswertung von etwa 130 Fällen der Unternehmensfortführung pro Jahr, die mit abweichenden Vereinbarungen vom Tarifvertrag flankiert werden, sowie von ca. 70 Fällen, in denen solche Abweichungen beantragt, aber nicht oder nicht mehr aussichtsreich einzusetzen sind.

3. Beschäftigungsverlust durch verlorene Konkurrenzfähigkeit von Betrieben:
Mindestens 7.000 Arbeitsplätze gehen jährlich verloren, weil es Geschäftsleitungen versäumen, mit offensiven Weiterbildungs- und Innovationsstrategien rechtzeitig durch neue Produkten und Dienstleistungen in neue Märkte vorzudringen. So ergab eine Betriebsrätebefragung der IG Metall NRW unter Betriebsräten der Automobilzuliefererindustrie in NRW, dass in dem Drittel der Betriebe, die Beschäftigungsverluste aufweisen, zugleich Mängel bei der Qualifizierung, Qualität, Liefertreue und Produkterneuerung festzustellen waren. Gleichzeitig berichteten die Betriebsräte aus den zwei Dritteln der Betriebe mit Beschäftigungsaufbau über erfolgreiche Innovationen und Weiterbildungsleistungen. Die Qualifizierungsbefragung der IG Metall NRW, an der bisher 106.500 Beschäftigte aus 986 Betrieben beteiligt waren, bestätigt diesen Zusammenhang von Qualifizierung, Innovation und Beschäftigungsaufbau, bzw. Beschäftigungsverlust auch für die anderen Branchen dieses Industriebereichs. Würden sich die erfolgsschwachen Betriebe in diesen Fragen an den erfolgreichen ihrer jeweiligen Branche orientieren, wäre insgesamt eine sicherlich noch wesentlich höher Zahl an Arbeitsplätzen zu erhalten oder gar neu zu schaffen.

4. Beschäftigungsverlust durch verlagerte Arbeitsplätze:
Mindestens weitere 4.000 Arbeitsplätze könnte es in der Metall- und Elektroindustrie pro Jahr noch geben, würden nicht Arbeitsplätze in andere Bundesländer, sowie nach West- aber auch Osteuropa verlagert, weil es dort die benötigten und hier zunehmend fehlenden Fachkräfte gibt. Betriebsräte aus Unternehmen der Energieanlagen- und Kraftwerksindustrie, dem Maschinenbau, aber auch der Automobilzuliefererindustrie berichten über einen zunehmenden Mangel an Fachkräften in den jeweiligen Betrieben. Zu geringe Leistungen in der Erstausbildung und Weiterbildung führen jetzt zu Qualifikationslücken, die zu Auftragslücken für die heimischen Standorte werden. Zunehmend entscheidet nicht so sehr das Lohnniveau sondern das Kompetenzniveau über eine Verlagerung/Ansiedlung von Arbeitsplätzen. Dabei ist es in der Regel lohnender, mit vorhandenen Belegschaften Qualifizierungs- und Innovationslücken zu schließen, als verlagerte Fertigungen völlig neu aufzubauen. Entscheidend ist auch hier die Innovationskultur und -praxis in den Betrieben, die über Verlust oder gar Schaffung von Arbeitsplätzen entscheidet.

5. Beschäftigungsverlust im Strukturwandel
Etwa 39 % des bundesweiten Personalabbaus in der M+E-Industrie hat zwischen 2002 und 2005 in Nordrhein-Westfalen stattgefunden, während nur 21% der Beschäftigten in diesem Bundesland in den Betrieben dieser Branchen tätig sind. In Nordrhein-Westfalen gibt es damit ganz besondere Herausforderungen in den Strukturen der Betriebe, die besondere Innovations- und Qualifizierungsanstrengungen erfordern, um eine weitere Abkopplung von der bundesweiten Entwicklung zu verhindern.

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Wolfgang Nettelstroth
IG Metall-Bezirksleitung NRW
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