„Gleiche Arbeit – Gleiches Geld“ gefordert
Gravierende Missstände hat die IG Metall in Nordrhein-Westfalen beim zunehmenden Einsatz von Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern ermittelt.
In neun Anklagepunkten fasst sie ihre Kritik an der Praxis vieler Unternehmen und Leiharbeitsfirmen zusammen. Etwa 230 000 Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer werden allein in NRW eingesetzt, deutlich über 100.000 Beschäftigten davon im Organisationsbereich der IG Metall. Mehr als jeder zehnte Arbeitnehmer in der Metall- und Elektroindustrie findet seine Arbeit nur als Leiharbeitnehmer – mit steigender Tendenz.
Detlef Wetzel, IG Metall-Bezirksleiter in Nordrhein-Westfalen: „Leiharbeit wird zunehmend zur Verdrängung regulärer Beschäftigung eingesetzt. Und Leiharbeit findet immer mehr unter Ausschluss elementarer Arbeitnehmerrechte statt. Wir klagen an, wir gehen in den Konflikt, und wir fordern für Leiharbeitnehmer ‚Gleiche Arbeit – Gleiches Geld’. Niemand wird sich ernsthaft diesem Grundanspruch auf soziale Verantwortung und Gerechtigkeit entgegenstellen können.“
Die IG Metall belegt mit zahlreichen Fakten und Beispielen die Liste ihrer Anklagepunkte gegenüber einer unverantwortlichen Unternehmenspraxis.
1. Mit Leiharbeitnehmern werden Stammbelegschaften ersetzt
52 % von 200 befragten Betriebsräten im Organisationsbereich der IG Metall geben an, dass ihre Arbeitgeber reguläre Beschäftigung durch Leiharbeit ersetzt haben oder ersetzen wollen. In gravierendem Ausmaß geschieht dies beispielsweise:
? Bei Schmitz Cargobull in Altenberge: Auf 440 gewerbliche Beschäftigte in Festeinstellung kommen hier in der Spitze bis zu 600 Leiharbeitnehmer.
? Bei Nokia in Bochum. Zu 650 Beschäftigten im Produktionsbereich 650 kommen in Spitzenzeiten bis zu 800 Leiharbeitnehmer hinzu.
? Bei Wincor Nixdorf in Paderborn: 647 Beschäftigte arbeiten regulär in der Produktion. 450 Beschäftigte haben nur Leiharbeitnehmerstatus.
? Bei Claas in Harsewinkel: Auf 1397 gewerbliche Beschäftigte kommen bis zu 600 Leiharbeitnehmer.
?Bei Krone arbeiten 265 Leiharbeitnehmer bei 525 gewerblichen Arbeitnehmern in Festeinstellung.
? Und die Fa. Miele erklärt, dass sie zusätzliche Arbeitsplätze nur noch an Leiharbeiter vergeben will, anstelle von Festeinstellungen.
2. Leiharbeitnehmer im Vollzeiteinsatz erhalten nur Teilzeitlohn
Der Verleiher Allbecon leiht Arbeitkräfte an Nokia zu besonders unwürdigen Bedingungen aus. Die dort Beschäftigten müssen sich verpflichten dem Verleiher für den Einsatz bei Nokia als Vollzeitkraft zur Verfügung zu stehen. Verträge erhalten sie jedoch nicht für die entsprechenden 152 Stunden im Monat sondern nur für 110 oder neuerdings gar nur für 60 Stunden. Bei 152 Stunden Arbeitsleistung erhalten sie am Monatsende statt der sowieso schon niedrigen 1121,76 € Brutto nur 811,80 € Brutto (110 h/Monat) oder gar 442,80 € Brutto (60h/Monat). Das Verleihunternehmen bucht die Arbeitszeitdifferenz in Zeitkonten. Damit umgeht der Verleiher die gesetzliche Verpflichtung, seinen Beschäftigten auch dann Geld zu zahlen, wenn der Entleiher die Arbeitskraft nicht anfordert. Der Verleiher kümmert sich nicht um Ersatzbeschäftigung, sondern lässt die Beschäftigten für seine unternehmerischen Risiken zahlen.
Und weil die jederzeit verfügbar sein müssen, haben sie zudem keine Chance, in verleihfreien Zeiten ihr Minieinkommen durch einen Zweitjob aufzustocken. Was bleibt: Die Kolleginnen und Kollegen sind in vielen Fällen auf staatliche Ersatzleistungen wie ergänzendes Hartz IV angewiesen.
3. Umfrage belegt Tarifvertragsverstöße und unverständliche Lohnabrechungen
Viele Leiharbeiter erhalten nicht ihr tarifvertraglich gesichertes Einkommen. Fehlerhafte Eingruppierungen, falsche Stundenlöhne, ausbleibende Einkommenserhöhungen nach 9 bzw. 12 Monaten Einsatzzeit im gleichen Betrieb, Umgehungen der Zahlungen von Weihnachts- und Urlaubsgeld sind keine Seltenheit. Uns liegen Abrechnungen von Beschäftigten der Verleihfirma Allbecon vor, denen trotz einer Einsatzzeit von mehr als 12 Monaten der tarifliche Anspruch selbst auf die geringe Zulage von 0,11 € pro Stunde nicht gewährt wurde, selbst bei einem Stundenlohn von nur 7,60 €. Nicht selten werden diese Verstöße gegen geltende Tarifverträge durch unverständliche Entgeltabrechungen verschleiert.
4. Doppelter Kantinenpreis bei halbem Lohn
In den Einsatzbetrieben kommt es teilweise zu eklatanten Ungerechtigkeiten. So zahlen beispielsweise bei Nokia die Leiharbeitnehmer den doppelten Preis für das Kantinenessen. Den Werkszuschuss gibt es nur für die Stammbelegschaft. Ein Leiharbeitnehmer verdient aber bei vergleichbaren Tätigkeiten nur die Hälfte des Stundenlohns der regulär Beschäftigten.
5. Eingruppierungsansprüche werden unterlaufen
Leiharbeitnehmer üben oftmals höherwertige Tätigkeiten aus, als im Arbeitvertrag zunächst vereinbart. Denn 50% der als Helfer eingesetzten Leiharbeitnehmer haben einen Facharbeiterbrief. Bei höherwertigen Tätigkeiten haben sie auch einen höheren Tarifanspruch, der vielfach nicht eingelöst wird. Dabei geht es um Differenzen von 1 bis 2 € pro Stunde. So gibt es beispielsweise einen Anspruch nach DGB-Tarif auf 8,12 € oder 9 €, bezahlt werden aber nur 7 €.
6. In verleihfreien Zeiten wird gesetzeswidrig Zwangsurlaub verfügt
Für Zeiten, in denen der Verleiher keinen Einsatz gewährleisten kann, muss er laut Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) §11.4 dem Arbeitnehmer seinen vertraglich garantierten Lohn zahlen. Entsprechend hoch sind die Kosten, die der Verleiher den entleihenden Betrieben in Rechnung stellt. Leiharbeitnehmer sollen auf Druck der Disponenten stattdessen aber Urlaub nehmen. Und häufig genug wird von Arbeitgeberseite richtig Druck auf die Kolleginnen und Kollegen ausgeübt. Sie werden vor die Alternative Urlaub oder Entlassung gestellt. 90 % der von uns befragten Leiharbeitnehmer bei Allbecon bestätigen diese rechtswidrige Praxis.
7. Unternehmenseigene Verleihfirmen ziehen Gewinn aus internem Verleih
Durch die Einrichtung von Verleihfirmen unter dem eigenen Unternehmensdach machen Unternehmen die Arbeitnehmerüberlassung zum eigenen Geschäftsmodell. Sie sparen die Verleihkosten, die beim Fremdauftrag anfallen und/oder zahlen zusätzlich nur Minilöhne, statt die eingesparten Verleihkosten zur ordentlichen Bezahlung ihre Beschäftigten zu nutzen.
Bei Hella in Paderborn werden bei 549 Stammbeschäftigten und laufenden Plänen zum Personalbau angesichts der verbesserten Auftraglage etwa 200 Leiharbeitnehmer über das eigene Verleihunternehmen avitea an den produzierenden Betrieb ausgeliehen.
Die Firma Krone hat sich an dem Gemeinschaftsverleihunternehmen Povis beteiligt. Für die dort Beschäftigten wurde der Tarifvertrag mit dem Christlichen Gewerkschaftsbund vereinbart, ohne Anspruch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld.
8. Leiharbeitnehmern werden Bankkredite verweigert
In immer mehr Fällen kommen Arbeitnehmer zu uns, weil ihnen die Banken jegliche Kreditfähigkeit absprechen. Gerade jungen Menschen werden damit verlässliche Lebensplanungen in jeglicher Hinsicht abgeschnitten. Und in unseren Branchen sind es ein Viertel der unter 30-jährigen, die nur als Leiharbeitnehmer oder befristet Beschäftigte noch eine Arbeit bekommen.
9. Vertragsstrafen führen zu unbezahlter Arbeit
Das Verleiharbeitsunternehmen WIR bucht den Beschäftigten massive Vertragsstrafen von 147 € von ihrem Lohn ab, wenn sie beispielsweise bei einer Erkrankung nicht die vereinbarten Meldefristen exakt einhalten. So kommt es in uns vorliegenden Einzelfällen sogar dazu, dass die einbehaltenen Vertragsstrafen höher als der beanspruchte Monatslohn ausfallen. Auf Grund dieser Praxis nach mittelalterlicher Gutsherrenart wurde bei Nokia in Bochum von IG Metall und Betriebsrat erreicht, dass diese Verleihfirma nicht mehr eingesetzt wird.
Detlef Wetzel, IG Metall-Bezirksleiter in Nordrhein-Westfalen: „Diese Vorgänge und Beispiele sind die Spitze des Eisbergs. Immer mehr Leiharbeitnehmer wenden sich Hilfe suchend an die 46 Verwaltungsstellen der IG Metall in NRW. Unsere gesammelten Anklagepunkte werden leider durch täglich neue Klagen von Beschäftigten über die Missständen in Leiharbeit bestätigt.“
Aktivitäten
Die IG Metall klagt nicht nur an, sie unternimmt auch etwas – gemeinsam mit Betriebsräten und Beschäftigten in Entleihbetrieben sowie den Leiharbeitnehmern.
Bisher wurden bereits über 600 Betriebsräte in NRW für betriebliche Auseinandersetzungen rund um die Leiharbeit qualifiziert. Weitere Schulungen sind in Planung. In vielen Betrieben werden die Mitbestimmungsmöglichkeiten bei dem Einsatz von Leiharbeitnehmern jetzt intensiver genutzt.
Mit der Aktionszeitung „Leiharbeit – Wenn schon, dann aber fair“ für Leiharbeitnehmer informiert sie alle Beschäftigten der jeweils einbezogenen Betriebe über die Dimensionen und Hintergründe von Leiharbeit und die Zielsetzungen und Schritte im Rahmen der Kampagne „Gleiche Arbeit für gleiches Geld“. Betriebsbezogene Einlegeblätter stellen die Situation der jeweiligen Firma und die speziellen Aktivitäten der IG Metall für diesen Betrieb vor.
Für Leiharbeitnehmer ist der Ratgeber „Leiharbeit – ein Job wie jeder andere?“ entwickelt worden. Die 21 wichtigsten Fragen vom Einkommensanspruch bis zum Kündigungsschutz werden hier beantwortet.
Mit Aktionen vor und in den Betrieben, auf Leiharbeitnehmer- und Betriebsversammlungen sowie in Verhandlungen mit einzelnen Unternehmen werden Schritte hin zum Ziel „Gleiche Arbeit – Gleiches Geld“ erreicht. Aktuell sind in zwölf Betrieben solche Auseinandersetzungen eingeleitet. Dazu gehören:
? Schmitz Cargobull, Altenberge
? Nokia, Bochum
? Claas, Harsewinkel und Paderborn
? Lemken, Alpen
? Kverneland, Soest
? Deuta, Bergisch Gladbach
? Wincor Nixdorf, Paderborn
? Blumenbecker, Beckum
? Winkelmann Powertrain Components, Ahlen
? tedrive Germany, Düren
? Hella, Paderborn
? Gilbarco, Paderborn
Erste Erfolge
Bei Schmitz Cargobull in Altenberge konnten durch die Initiative der Betriebsräte und der IG Metall erste Erfolge für die Leiharbeitnehmer erzielt werden:
? An der Bonusregelung für 2006/2007 sind jetzt auch die Leiharbeitnehmer anteilig beteiligt.
? Bei anfallender Mehrarbeit oberhalb der 38-Stunden Woche werden die Zuschläge nach IG Metall-Tarif gezahlt.
? 30 Leiharbeitnehmer haben im letzten Monat befristete Verträge zu den Tarifbedingungen der Stammarbeitkräfte erhalten.
? Auch einheitliche Berufskleidungen im gewerblichen Bereich sowie die 100%ige Beteiligung der Leiharbeitnehmer an den Prämien im „Kontinuierlichen Verbesserungsprozess“ (KVP) wurden vereinbart.
? Für 30 % der Leiharbeitnehmer soll es jetzt die Übernahme in befristete Arbeitsverhältnisse geben. In der vergangen Woche konnte ein entsprechender Aufsichtsratsbeschluss erreicht werden.
Weil Leiharbeiter im Durchschnitt um 5,84 € schlechter bezahlt werden als die regulär Beschäftigten geht der Konflikt nun in die nächste Runde. Zudem wird die Umwandlung befristeter Stellen in Dauerarbeitsplätze von Betriebsrat und IG Metall eingefordert.
Bei Nokia in Bochum gab es auf Initiative der IG Metall und des Betriebsrats für einen Teil der dort eingesetzten Leiharbeitnehmer eine klare Verbesserung.
? Dem Verleiher WIR sind die Aufträge bei Nokia gekündigt worden. Die Firma WIR wird auch keinen weiteren Einsatz mehr bei Nokia bekommen. Anlass war die skandalöse Praxis, Beschäftigte mit willkürlichen Vertragsstrafen von 147 € zu belasten. Die bei Nokia eingesetzten Beschäftigten wurden ohne neue Probezeit über andere Leiharbeitsfirmen weiterbeschäftigt. Statt des Billigtarifs der Christlichen Gewerkschaft von 7,00 € erhalten sie jetzt 7,38 € entsprechend DGB-Tarif, ein Plus von 58 € im Monat.
? Weiterhin hat der Betriebsrat dafür Sorge getragen, dass die betroffenen Kolleginnen und Kollegen nicht ihren Arbeitsplatz verlieren. Sie werden von den Leiharbeitsfirmen, welche die Aufträge nun abarbeiten, ohne Probezeit weiter beschäftigt.
? Für den Nokia-Betriebsrat sind die Leiharbeiter nicht mehr „die Anderen“, sie sind ihre Kolleginnen und Kollegen. So fanden Teilversammlungen für Leiharbeitnehmer statt und sie nahmen, wie alle Beschäftigten bei Nokia, an den Sprechstunden des Betriebsrates und der IG Metall Bochum teil.
Um weitere Missstände aufzudecken, läuft zur Zeit eine Leiharbeiterbefragung zu den Arbeits- und Beschäftigungszeiten, zur Entlohnung und der Frage, welche tariflichen Leistungen eventuell nicht bezahlt werden.
Aus über 20 Betrieben hat die IG Metall NRW bisher Vereinbarungen zur Gleichbehandlung von Leiharbeitnehmern gegenüber der Stammbelegschaft erfasst. Dazu zählen unter anderem:
- Deutsche Edelstahlwerke, Hagen, Witten, Krefeld, Siegen
- Hoesch Schwerter Profile, Hagen
- Schwing, Herne
- Mannesmann Röhren, Mülheim
- Vallourec Mannesmann, Mülheim
- Schäffler KG, Wuppertal
- Hugo Honsel, Arnsberg
- Phönix Contact, Detmold
- Zumtobel Lighting, Lemgo
- Siemens VDO, Dortmund
- Hoesch Spundwandprofile, Dortmund
- Kennametal Widia, Essen
- Ford, Köln
- Opel, Bochum